Leseausschnitt:
Kelvin ging den Feldweg entlang, der die parallelen Straßen zwischen seinem Elternhaus und dem Haus von Andreas verband. Es war noch hell an diesem frühen Freitagabend. Die Diskothek am Ort öffnete erst gegen 19.00 Uhr. Wie fast jeden Freitag ging er zuerst seinen alten Schulfreund Andreas besuchen. Sie kannten sich schon, als sie beide noch im Sandkasten gespielt hatten. Später besuchten Sie die gleiche Grundschule. Das Dorf, indem sie wohnten, war recht klein und überschaubar.
Jeder kannte jeden und jede kleinste Neuigkeit verbreitete sich wie mit Windeseile. Kelvin wechselte nach der Grundschule auf das Gymnasium, es war etwa 12 Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Andreas ging weiterhin auf die Hauptschule und begann im Alter von 15 Jahren eine Ausbildung als Maler und Lackierer. Ihre Wege hatten sich mit 11 Jahren getrennt.Erst jetzt, im Alter von knapp 18 Jahren kamen sie wieder zusammen. Kelvin ging noch zur Schule. Andreas war mit seiner Ausbildung fertig und war bei einem hiesigen, kleinen Familienunternehmen im Nachbarort, angestellt. Er verdiente schon Geld, während Kelvin noch auf seine Eltern angewiesen war.
„Fufufu“, kam es leise aus seinem Mund. Kelvin hatte Tourette. Die sogenannte Koprolalie machte ihm hauptsächlich zu schaffen.
Er musste immer wieder Wörter, die Selbstlaute beinhalteten, ausstoßen.
Trotzdem oder gerade wegen diesen Zwängen versuchte er natürlich die Wörter so gut es ging zu unterdrücken. Meist waren es auch obszöne Worte.
In der kleinen Gemeinde, in der er wohnte, wusste niemand so recht über seine Krankheit Bescheid. Und das war auch ganz gut so. Seine Eltern mussten zwar damit auskommen. Aber sie ignorierten ihn, sowie so gut es ging.
Es schellte an der Tür. Die Mutter von Andreas öffnete. „Hallo, er ist im Wohnzimmer.“
Sie hielt die Tür am Griff fest, während Kelvin hineinging. „Andreas hat schon auf dich gewartet“, sie schloss die Tür und ging zurück in die Küche.
Andreas Mutter war eine einfache Frau. Sie hatte vier Jungs und eine Tochter großgezogen. Es war nicht immer einfach gewesen, im Nachkriegsjahrzehnt.
Ihr Mann war LKW Fahrer und verdiente gerade mal das, was man zum Leben benötigte. Sie hatten trotzdem in den 60iger Jahren gebaut, aber waren nie richtig fertig geworden. Es fehlte halt das nötige Kleingeld.
Andreas saß im Wohnzimmer. Er saß immer an der kurzen Seite des Esstischs.
Ihm gegenüber stand das obligatorische Fernsehgerät, wie es in den 70er Jahren in jedem Haushalt üblich war. Links neben ihm stand wie immer ein Kasten Bier und manchmal auch ein Kasten Apfelwein.
„Hallo“, Kelvin grüßte kurz und setzte sich wie immer in der letzten Zeit an die Längsseite des Tisches.
Das Fernsehgerät war an und irgendeine Serie lief. Auf dem Tisch fehlte die Tischdecke. Neben dem Aschenbecher stand nur ein halb volles Bierglas und mehrere leere Flaschen Bier. Und die Fernsehzeitung. Der Ascher war bereits bis zum Anschlag voll.
Andreas hatte kein Oberteil an. Er schwitzte immer stark. Ohne Aufforderung stellte er aus dem Kasten am Boden eine Flasche Bier vor Kelvin auf den Tisch und öffnete sie zuvor mit dem Feuerzeug.
„Gibt’s was Neues?“ Kelvin sah ihn an, während er den Flaschenhals kurz mit der rechten Hand abwischte.
„Nö, alles wie immer. Außer dass ich die Woche krankgeschrieben bin. Mein Kreuz, du weißt!“ Er füllte sein Glas wieder auf.
Kelvin prostete ihm zu und trank einen großen Schluck aus der Flasche. „Ich will nachher noch in die Disco. Kommst du mit?“
Andreas steckte sich die nächste Zigarette an. „Geht nicht, ich bin doch noch krankgeschrieben. Da kann ich nicht.“
Draußen auf dem Flur knallte eine Tür. Andreas rief: „Torben, komm mal her.“
Torben war sein geistig etwas zurückgebliebener, jüngerer Bruder, 12 Jahre alt.
Als er zur Tür herein kam, grinste er zuerst Kelvin an und ging dann weiter, bis er direkt vor Andreas stand.
„Hier hast du Geld. Bring mir zwei Schachteln Zigaretten und eine Flasche Bacardi.“
Als Torben schon wieder gehen wollte, sagte Andreas noch: „Bring auch noch zwei Flaschen Cola mit.“
Er wendete sich zu Kelvin: „Hab was ganz was Feines im Kühlschrank. Warte.“
Als Torben den Raum verlassen hatte, stand er auf und ging in die Küche. Kelvin schaut ihm kurz hinterher und vertiefte sich ins Fernsehen.
Die Zigarette im Ascher klimmt weiter vor sich hin. Kelvin bekam einen großen Teil des Rauches ab. Seine Nase zog sich zu.
Der Druck in seiner oberen Nasenhöhle nahm zu. Zuerst merkte er nichts. Dann jedoch kam es über ihn: „Muuuuuhh, hemmmm.“ Er stieß dumpfe Laute aus. Der Zwang immer weiter zu ticen und lauter zu werden, nahm zu.
Er schaute zur Tür. Niemand zu sehen. Sein Kopf zuckte nach oben: „ Muuuuuuuh, effffff.“
Andreas kam zur Tür herein. In der einen Hand einen Kübel mit Eiswürfel und in der anderen eine Flasche Jonny Walker Whisky. Er stellte beides auf den Tisch.
Kelvin war etwas unsicher, ob er seine verbalen Tics bemerkt hatte. Andreas sagte jedoch nichts und ließ sich auch nichts anmerken. Er setzte sich wieder in seinen Stuhl, zog kurz an der Zigarette. Leseausschnitt Ende.
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